Im Trichter und unter der Hütte
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Viktor schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, gut gelaunt den Gang entlang. "Hall of Mirrors" donnerte ungesund laut aus seinen Kopfhörern. Er hatte zwar immer noch ein wenig Muskelkater von dem ganzen Irrsinn in den Wäldern, aber davon würde er sich seine Stimmung nicht trüben lassen. Die Fenster zu seiner Linken waren hoch angelegt und schlossen bündig mit der Decke ab, warmes Sonnenlicht brachte zu dieser Tageszeit die Wände beinahe zum Leuchten. Es würde wohl ein schöner Tag in Sjhlfels werden. Und nicht viel war heute zu erledigen, der nervtötende Papierkram lag hinter ihm, keine Trainingseinheiten, keine saublöden Schulungen. Nur die obligatorische Sprechstunde, auch Einsatznachbesprechung genannt, bei der Chefin. Er war recht zuversichtlich, dass das Frage- und Antwortspielchen diesmal halbwegs ohne Augenverdrehen und Standpauken vonstatten gehen würde, schließlich hatten Johnny und er sich vorher genau zurechtgelegt, wie viel von der ganzen Sache wirklich wichtig war und welche Details Bell nur unnötig belastet hätten. Also, eine halbe Stunde Debriefing und dann ein ganzer Tag Freizeit. Genüsslich in Gedanken die Möglichkeiten durchspielend, die sich ihm boten, bog er um eine Ecke, der Gang erweiterte sich zu einer Art Vorzimmer, das von der viel zu großen Tür zu Bells Büro -Hexenküche, dachte Viktor- und einer Standuhr, ausgeführt in Holz und Messing, dominiert wurde. Den Boden bedeckte ein antiker, geknüpfter Teppich in bräunlich-roten Tönen mit der Darstellung eines Partherschusses, darauf befanden sich drei Ohrensessel, deren Leder beim Platznehmen stets herrlich knirschte. Dazwischen ein Beistelltisch, dessen runde Platte aus irgendeinem polierten Tropenholz gefertigt war, das Viktor nicht kannte. Eine trennende Tür zum Gang gab es nicht. Und normalerweise auch keine Vorzimmerdame, was diesmal allerdings nicht ganz zutraf. Jemand saß mit überschlagenen Beinen in einem der bequemen Sessel an der Wand und las konzentriert in einer Zeitschrift. Viktor nahm die Pods aus seinen Ohren. Beim Näherkommen erkannte er, dass es sich um eine Ausgabe dieser Zeitschrift handelte, die sich mit sarkischen Themen beschäftigte. Er hatte den Titel schon wieder vergessen und die willkürlich in sich verdrehten Lettern auf die Schnelle zu entziffern war sinnlos. Nur einer hier liest dieses Zeug mit Begeisterung, dachte er.

"Morgen, Stephan! Neueste Ausgabe von Wilde Wucherungen wöchentlich?", grüßte er jovial, Stephan senkte seine Lektüre ein wenig.

"Guten Morgen. Gute Laune heute, was? Johnny ist schon vor zwanzig Minuten oder so reingegangen und er hat weniger glücklich ausgesehen. Warum hat sie euch beide zeitversetzt einbestellt?"

Oha, Johnny war schon länger in Bells Büro? Viktors Gefühle erfuhren eine kleine Veränderung zur Beunruhigung hin. Noch nicht wirklich Besorgtheit, es fühlte sich mehr an, als schielten seine Instinkte unauffällig in Richtung Alarmbereitschaft. Er sah kurz auf die Uhr.

"Davon wusste ich gar nichts. Ich sollte jedenfalls um Punkt Zehn hier antanzen. In zwei Minuten", fügte er überflüssigerweise hinzu.

"Na dann." Stephan widmete sich wieder den aktuellen, sicherlich hochinteressanten ekeligen Abhandlungen.

Auf dem Beistelltisch befand sich ein ein vergleichsweise einfach gestaltetes Schachspiel mit einer laufenden Partie. Viktor trat näher und legte den Kopf ein wenig schief. Die schwarzen Figuren auf Stephans Seite waren deutlich besser entwickelt, aber Viktor erkannte trotzdem eine Schwachstelle.

"Dein Läufer hängt."

"Wie meinen?", antwortete Stephan und ließ endgültig das Magazin sinken. Sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an, eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.

"Das… ist nicht mein Spiel. Komisch, ich hätte schwören können, vorhin waren alle Figuren in Ausgangsstellung…"

Ein karierter Zettel, wahrscheinlich aus einem Notizblock gerissen, ragte unter der weißen Spielbretthälfte hervor. Stephan griff danach, las und wirkte noch erstaunter als zuvor. Er reichte Viktor das Papier. Eine gestochen scharfe, offensichtlich weibliche, doch eigentümlich kindliche Handschrift, nur einige wenige Worte: Tut mir leid, nicht böse sein, aber das ist echt scheiß-langweilig geworden. Ich bin mal weg. Ebenso wie Stephan hatte er nicht den geringsten Schimmer, was das bedeuten sollte, das war weder Alice' noch Amys noch Bells Handschrift. Er hatte das merkwürdige Gefühl, als griffe sein Verstand nach etwas und bekäme nur Leere zu fassen. Die Standuhr begann zehn Uhr zu schlagen und in Viktors Kopf rastete etwas ein. Irgendwo im Gebäude hatte sich der Heimkehrer automatisch eingeschaltet. Viktor sah Stephan an, dessen Gesichtszüge von "Hilfe, ich habe mich verlaufen" zu "Sehr witzig, vielen Dank auch" wechselten.

"Kleines Biest", presste er zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor.

Viktor machte sich nicht die Mühe ein Prusten zu unterdrücken, zeigte mit dem Daumen auf Bells Tür und hob verabschiedend die andere Hand. Einen Moment, bevor seine Knöchel auf das Holz trafen hörte er eine Stimme von der anderen Seite:

"Reinkommen!"

"Netter Trick", murmelte Viktor, "Und so ganz ohne Magie."

Bells Büro, ihre Hexenküche, Zweitwohnung, Rumpelkammer oder als was man den Raum auch immer bezeichnen wollte, strahlte wie immer trotz des Durcheinanders eine einnehmende Behaglichkeit aus. Er hielt einen Moment inne. Sie hatte tatsächlich das Poster aufgehängt, das er halb freundschaftlich, halb gehässig für sie gemacht hatte, ein seinen Fähigkeiten entsprechender Bildbearbeitungsunfall. Ihr gestrenges Gesicht war mehr schlecht als recht auf den Cartoonkörper einer bekannten Hexe montiert, inklusive folgendem Text: "Belli Blocksworth, Folge 41: Ohne Mami geht es nicht". Viktor lächelte, er wusste ja, dass Bell sehr wohl Humor hatte und leider sehr oft die Ernste spielen musste.

"Einen wunderschönen guten Morgen, meine Dame, mein Herr", sagte er betont freundlich, nickte Johnny und Bell kurz zu, bevor er Platz nahm. Gleichzeitig hörte er in seinem Kopf:

Pass mal kurz auf, Kumpel, ich…

Ein mechanisches Aufziehäffchen in Zirkusdirektorenuniform, das auf Bells Schreibtisch saß, schlug fröhlich seine niedlichen Tschinellen zusammen. Seine Besitzerin räusperte sich.

"Ähem. Telepathiefreie Zone, wenn ich bitten darf, ja?"

"Test, eins, zwei", sagte Viktor und sendete Folgendes in Johnnys Richtung:

Test, du kleine Petze von einem Mistprimaten. Spiel mal was!

Empörtes Tschinellenschlagen folgte, Bell seufzte und Johnny lachte kurz auf.

"Lass jetzt den Unsinn, Viktor, ich meine es ernst. Also. Zum letzten Einsatz, in Ordnung? Johnny hat mir schon seine Version erzählt, jetzt bist du an der Reihe. Zeit, Ort und dergleichen kannst du dir sparen, die Akte habe ich auch. Erzähl' von da ab, als ihr den Wald betreten habt, in allen Einzelheiten. Und bevor du wieder dumm fragst- ja, auch wenn du mal an einen Baum gepinkelt hast ist das wichtig."

"Dann weißt du ja eigentlich schon alles. Ich verstehe nicht, warum…" Er fing Bells Blick auf. Keine Diskussionen mehr. Er dachte einen Moment nach, bevor er begann.

"Na schön, also…"


Viktor sah zu, wie Johnny mit seinem Hut in der Luft herumwedelte, um die lästigen kleinen Mücken zu verscheuchen, die sich wie ein bestelltes Empfangskomitee eingefunden hatten, sobald sie aus dem Wagen gestiegen waren. Das Sonnenlicht fiel gesprenkelt durch die Wipfel und erzeugte durch deren Bewegung im Wind einen Effekt von wabernden Flecken, wie auf dem Grund eines Aquariums.

"Und ich bin trotzdem der Meinung, dass die Unternehmung hier besser für Alice und Stephan geeignet gewesen wäre als für uns," kommentierte Viktor und blickte kurz auf das GPS-Gerät.

Für einen lokal so berühmt-berüchtigten Ort befand sich ihr Ziel ziemlich weit ab vom Schuss mitten in den Wäldern. Typisch, sobald es irgendwie unwegsam wird müssen wir ran, dachte Viktor ein wenig missmutig.

"Warum denn das?" fragte Johnny weiterhin wedelnd und forsch ausschreitend.

"Romantischer Campingausflug? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Gefahr? Völlig unbeobachtet? Vielleicht mal eine Gelegenheit für die beiden, über ihre Zukunft zu sprechen?"

"Das geht uns mal überhaupt nichts an. Andere Frage, du weißt, wie man ein Zelt aufstellt, oder?"

Ein Bild eines völlig verwirrten Viktor auf einer Plane mit in obskuren Winkeln zusammengestecktem Zeltgestänge in den Händen und einem Comic-Fragezeichen über dem Kopf wurde hinterhergeschickt.

"Dazu kann ich nur sagen, dass ich es letztes Mal noch konnte und genauso ausgebildet bin wie du. Schau, da vorne kommt das erste von diesen Löchern."

Vor ihnen lichtete sich der dichte Bestand an Tannen ein wenig und gab den Blick auf eine Senke im Boden frei. Sie war annähernd rund, mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. Springkraut wucherte wild im und um das Loch herum, die rosafarbenen Blüten weit geöffnet. Mit ziemlicher Sicherheit war die Kuhle einmal deutlich tiefer gewesen, doch über die Jahrzehnte hatte neuer Humus den Boden langsam wieder erhöht. Oder auch der Müll, den jemand dort deponiert hatte. Ein alter Kühlschrank ragte schief und nur halb sichtbar aus den Pflanzen wie ein abgebrochener Schneidezahn. Die Leute sind doch die letzten Schweine, keine Skrupel, ihren Schrott hier zu entsorgen, aber ordentlich genug, ihn in ein passendes Loch zu werfen, dachte Viktor. Das war nun also der erste von insgesamt vier Bombenkratern, die sich den Einsatzinformationen nach wie Perlen auf einer Schnur hintereinander durch den Wald zogen. Von ihnen aus gesehen war der dritte derjenige, den sie suchten. Es konnte nun nicht mehr weit sein.

"Was glaubst du, warum der Pilot seine Fracht hier abgeworfen hat? Falsch betankt und dann Gewicht reduziert?", fragte Johnny. Viktor schnaubte.

"Wenn er bei Verstand war, wollte er Leben schonen, womöglich zunächst einmal das eigene. Ich hab keine Ahnung von Luftkampf oder Sperrfeuer und dem Zeug, aber ich wäre sicher auch lieber hier umgekehrt."

"Leben schonen, hat ja ganz vorzüglich geklappt", machte Johnny ironisch während sie vorsichtig durch Brombeerranken staksten.

Nach einiger Zeit passierten sie den zweiten Krater, der deutlich tiefer war und weniger zugewuchert. Die Bäume waren wieder näher herangerückt, ihre Äste waren ausladender und hingen tiefer, der Nadelteppich erschwerte den kleineren Pflanzen das Wachstum. Viktor hatte das Gefühl, dass es mit der leichten Zunahme der Düsternis auch ein klein wenig kühler geworden war. Dem Wald hatte man ab dieser Stelle weniger forstmännische Hege und Pflege angedeihen lassen, zunehmend mehr Laubbäume, mit häufig totem Astwerk, mischten sich zwischen die Tannen. Und dann erreichten sie den ominösen Trichter. Zuerst konnten sie ihn allerdings riechen. Selbst die allerbrackigsten Stellen an den schmutzigsten Molen im Hafen von Sjhlfels verströmten nicht ein derart modriges und fauliges Odeur. Viktor wusste, dass der Krater mit Wasser gefüllt war, aber dieses hier war eindeutig umgekippt und das ganz klar schon vor längerer Zeit. Und tatsächlich sah die Brühe dunkel, algig und schleimig aus, wären Blasen aufgestiegen und an der Oberfläche zerplatzt, es hätte Viktor nicht gewundert. Entengrütze schwamm beinahe überall obenauf, dazwischen schwarz verfärbtes Laub, Zweige und Ästchen, sowie hier und dort ein Zapfen, aus dem nie ein Baum wachsen würde.

"Stinkt wie die Seuche. Und? Hast du irgendwas?", fragte Johnny während er seinen Rucksack ablegte und an einen Stamm lehnte. Viktor sah sich noch einmal in alle Richtungen um. Dann schüttelte er den Kopf.

"Es war ein Unfall, kein Mord. War ja eigentlich klar, dass es hier für mich nichts zu sehen gibt. Gefällt mir ganz gut so.", antwortete er.

"Sehr schön. Pack aus, stellen wir zuerst die Kameras auf, in Ordnung?"

Auch Viktor entledigte sich seines Gepäcks und schnallte das Zelt ab. Eine Zeit lang machten sie sich mit den Stativen und den Geräten rund um den abstoßenden Weiher zu schaffen, bis dieser und das umgebende Gehölz von drei verschiedenen Positionen aus gefilmt werden konnte.

"Läuft auch. Das war's. Wo wollen wir das Zelt aufstellen?"

"Ausnahmsweise da, wo wir den Wind im Rücken haben, Fallensteller." Viktor rümpfte die Nase und tat so, als würde er ausspucken.

"Tragische Geschichte, das Ganze. Ein wahnsinniges Pech. Da sucht die arme Frau hier Schutz vor den Bomben und wird prompt von einer getroffen. Verrückt. Wie hieß sie noch gleich?"

"Heisler. Melissa Heisler. Und ihr kleiner Junge hieß Frank.", sagte Viktor und konnte nicht umhin, sich kurz vorzustellen, wie die Fliegerbombe die Unschuldigen in einem Sekundenbruchteil in Stücke riss. Wahrscheinlich hatten sie zu ihrem Glück gar nicht mitbekommen, wie ihnen geschah. Johnny konnte Gedanken zwar nicht lesen, aber sie meistens ziemlich gut erraten:

"Es ging schnell, keine Frage. Was hältst du von den ganzen Geschichten? Den Erscheinungen? Dem Wahnsinn? Dem Zahn?"

"Was die Geister angeht werden wir ja sehen. Der Wahnsinn…"

In den frühen Sechzigerjahren war ein anderer Junge beim Spielen hier draußen in den Trichter, wie das Ding vor ihnen genannt wurde, gestürzt. Er hatte Wasser geschluckt, war daraufhin schwer krank geworden und hatte im Fieberdelirium irrsinniges Zeug von sich gegeben. Nur logisch, dass daraus bei den Leuten in den umliegenden Dörfern die Redensart entstanden war, das Wasser würde den Wahnsinn bringen. Möglicherweise glaubten sie nicht wirklich daran, sondern erschreckten damit ihre Kinder, aber Viktor wusste nur zu gut, dass von solchem Gerede immer auch ein wenig im kollektiven Unterbewusstsein hängenblieb.

"… ist leicht erklärbar. Die Sache mit dem Zahn halte ich für frei erfunden. Steckt jahrelang in einem Baum, der Beißer, und wächst ein, bis ihn zufällig jemand entdeckt? Kann ich mir nicht vorstellen."

"Das ist so unwahrscheinlich wie im Wald von einer Bombe erwischt zu werden", sinnierte sein Freund. Viktor schirmte theatralisch die Augen gegen die Sonne ab und sah zu den Wipfeln auf.

"Wenigstens hängen keine Taucher in den Bäumen, das ist doch schon mal was. Ich nehme jetzt schnell die Probe und dann bauen wir das Zelt auf. Hoffentlich sind wir dieser heiklen Aufgabe gewachsen."

Nachdem sämtliche Vorbereitungen abgeschlossen waren und das Zelt geschützt in einem Dreieck aus jüngeren Tannen seinen Platz gefunden hatte, wo der Boden leidlich eben war, vermerkte Viktor den bisherigen Fortgang. Wenig genug war es ja. Johnny war mit seinem Handy beschäftigt, höchstwahrscheinlich schickten er und Amy im Minutentakt Herzchen hin und her. Es gab nichts weiter zu tun als die Zeit totzuschlagen, also entschloss sich Viktor zu einem kleinen Rundgang, um sich ein Bild über die nähere Umgebung zu machen. Wie er beinahe erwartet hatte fand er eine kleine Lichtung, malerisch verziert mit Schokoriegelpapier, Getränkedosen, Glascherben und einer ansehnlichen Menge an Zigarettenstummeln. Zwischen improvisierten Sitzgelegenheiten aus herbeigeschleiften morschen Stämmen befand sich ein Steinkreis mit einem ebenfalls aus Geröll zusammengesetzten Pentagramm. Das ist wohl der Kick für euch, dachte Viktor, ihr glücklich-ahnungslosen Kinder. Später, gegen Abend, begann sich der Himmel zu bewölken und es sah aus, als würde es in der Nacht irgendwann zu regnen beginnen. Johnny und Viktor hatten ihre spärliche Mahlzeit eingenommen und saßen nun, sich über dies und das unterhaltend, mit einer Tasse Tee vor dem Zelt.

"Das wird eine ganz beschissene Nacht, wenn ich alle anderthalb Stunden nachsehen muss, ob sich was tut," beschwerte sich Viktor.

"Du bist nicht allein, ich wache schließlich auch davon auf, also hab dich mal nicht so."

"Stimmt. Und falls du den Wecker überhörst, wecke ich dich vorschriftsgemäß, keine Sorge."

Viktor trank den Rest des Tees und stand auf.

"Ich werde mal versuchen, ein wenig vorzuschlafen."

Er hatte das Gefühl, sich gerade erst hingelegt zu haben, als zum ersten Mal der Alarm klingelte. Draußen war es stockfinster und unheimlich still, so dass jedes noch so kleine Geräusch im Wald lauter erschien, als es in Wirklichkeit war. Zudem war es merklich kühler geworden und Viktor fröstelte, als er mit der Taschenlampe im Anschlag den Trichter umrundete, um sich umzusehen und die Kameras zu überprüfen. Nichts Ungewöhnliches geschah, kein leichenblasser Geist einer Frau mit Kind sprang unversehens in den Lichtkegel. Er schaltete die Lampe aus und kroch zurück in das Zelt, wo Johnny selbstverständlich bereits wieder schlief. Das Prozedere wiederholte sich noch zweimal mit demselben Ergebnis, doch beim dritten Mal war es ein unsanfter Stoß mit dem Ellenbogen, der ihn aus dem kurzen Schlafintervall riss.

"Schon wieder? Das ist…", begann er, doch Johnny unterbrach ihn, nicht ohne auf einen weiteren unsanften Rempler zu verzichten.

Schsch. Ruhig. Lass die Lampe aus.

Viktor versuchte angestrengt, etwas von außerhalb des Zeltes zu erlauschen, suchte nach einem Lichtschein, der möglicherweise auf die Plane fallen mochte und tastete gleichzeitig nach seiner Waffe. Johnny hatte recht, jemand (oder etwas, dachte Viktor) schien sich nordwestlich von ihnen mit brachialer Gewalt durch das dichte Unterholz zu schlagen. Er schob die Waffe vorsichtig unter seine neben ihm liegende Jacke und zog dort langsam den Schlitten durch.

Könnten Jugendliche sein. Könnten uns gesehen haben, warf ihm Johnny zu.

Viktor antwortete nicht. Das Geräusch veränderte sich plötzlich, das Knacken und Bersten von Ästen brach ab und wurde zu einer Art schnellem, wilden Getrampel. Um wen oder was es sich auch handeln mochte, der Verursacher des Lärms hatte die Lichtung des Kraters betreten. Und kam rasend schnell näher.

"Okay, Lampe an!", rief Johnny und einen Moment später mussten sie in der auflammenden Helligkeit die Augen zusammenkneifen. Viktor warf seine Taschenlampe zwischen sich und Johnny und griff nach dem Reißverschluss des Zelteingangs. In diesem Moment drückte etwas von außen auf die Zeltwand, die sich Johnny bedenklich nah entgegenwölbte, zusammen mit einem feuchten, schleifenden Quietschen. Sie beide schreckten kurz zurück, doch die Ausbuchtung verschwand so schnell wie sie gekommen war. Viktor spürte, wie sich die Härchen an seinen Armen aufstellten.

"Scheiße!" Er nahm sich zusammen und riss entschlossen an dem Reißverschluss.

Das Gefühl, mit dem ungeschützten Kopf zuerst aus dem Zelt zu kriechen, war höchst unangenehm und Viktor machte, so schnell er konnte, während sich das Getöse so schnell vom Lagerplatz weg entfernte, wie es gekommen war. Draußen sprang er auf und richtete den Lichtkegel auf die Seitenwand des Zeltes, dann auf das Gehölz dahinter. Da war nichts mehr. Aber was auch immer es gewesen war, es hatte deutliche Spuren hinterlassen. Bevor er sich darum kümmerte, schwenkte er auf den Trichter. Die ihnen am nächsten stehende Kamera war samt dem Dreibein umgestoßen worden. Mit ein wenig Glück hatte sie einfangen können, was gerade geschehen war.

Viktor, komm her. Wir haben ein Problem. Ein großes.

Johnny hatte ebenfalls das Zelt verlassen und stand mit angewidertem Gesichtsausdruck an dessen Seite. Er hielt Viktor beinahe anklagend seine Hand hin. Die Fingerspitzen wirkten pechschwarz, als er nähertrat veränderten sie sich jedoch zum eindeutigen Hellrot arteriellen Blutes. Problem, allerdings, dachte er. Der gesamte Stoff der Zeltwand troff geradezu von der Flüssigkeit, ohne die Imprägnierung hätte sie sich wohl vollgesaugt wie ein Küchenschwamm.

"Fuck. Wir brauchen das Erste-Hilfe-Set und dann müssen wir hinterher. Auch wenn's für mich verdammt nochmal eher nach letzter Ölung als nach erster Hilfe aussieht."

"Gefällt mir überhaupt nicht. Aber du hast Recht, wir müssen uns beeilen. Ich nehme eine der Kameras mit, zum Dokumentieren."

Trotz der schieren Menge des vergossenen Blutes war es nicht so leicht, der Spur zu folgen wie gedacht und mehr als einmal waren sie gezwungen, einige Meter zurückzugehen, weil ein Polster dunklen Mooses oder ein faulendes Blatt sie getäuscht hatte. Zudem folgte die Fährte einem wirren Muster, führte quer durch Gestrüpp, wo ein winziges Abweichen einen viel einfacheren Weg eröffnet hätte. Zehn Minuten mochten vergangen sein, als sie ein anderes Geräusch vernahmen als ihre eigenen. Es war ein sich wiederholendes, abgehacktes, pfeifendes Tremolo, ein Zittern, das bei Viktor schon wieder Gänsehaut verursachte. Nach einigen weiteren Schritten fanden sie, wonach sie suchten, zusammengesunken an einem Stamm.

"Mein Gott, wie… ist das passiert?", brachte Johnny schockiert hervor.

Viktor versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren, was angesichts des Anblicks keine leichte Übung darstellte. Es handelte sich um ein im Sterben liegendes Reh. Die eine Flanke, die er sehen konnte, schien aus einer einzigen offenen Wunde zu bestehen. Viktor schluckte, als er erkannte, wie akkurat und gerade die Ränder der Verletzung verliefen. Jemand hatte das Tier bei lebendigem Leib und bei vollem Bewusstsein gehäutet. Ihm wurde mit einem Mal speiübel. Die Fesseln des gequälten Geschöpfes zuckten unablässig und er erkannte an jedem Bein eine durchschnittene Drahtschlinge. Wo sie nicht mit Blut verschmiert waren, schimmerten sie klinisch und kalt im Licht.

"Wie kann es noch am Leben sein? Krank. Machst du es, oder soll ich?", murmelte Johnny.

Viktor konnte sich ebenfalls nicht erklären, wie das möglich war. Aber er wusste, was zu tun war. Abdrücken. Er brauchte zwei Kugeln.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Kadaver zurückzulassen. Sie mussten schnellstens zurück zum Zelt.

"Wir sollten versuchen, einen Bogen zu schlagen", schlug Johnny vor und Viktor nickte.

"Der oder die Scheißkerle treiben sich hier irgendwo noch herum. Wenn es geistesgestörte Jäger sind oder sowas folgen die der Spur wahrscheinlich sehr viel effizienter als wir. So eine Scheiße, Johnny. Wir können echt froh sein, dass wir keinen Foundationkram dabeihaben. Vielleicht wühlt gerade schon jemand in unseren Sachen."

"Du hast recht. Wir haben einen Fehler gemacht. Einer von uns hätte dortbleiben müssen. Gehen wir."

Mit Hilfe des Positionsgerätes war es kein Problem, den Rückweg zu finden, das Problem war der Schein der Lampen, der sie schon von weitem verraten hätte. Sie verwendeten deshalb notgedrungen die Nachtsicht der Kamera um sich zurechtzufinden, was das Vorankommen nochmals erschwerte und kostbare Zeit kostete. Außerdem hielten sie des öfteren inne und horchten nach verräterischen Geräuschen. Endlich erreichten sie die Lichtung des Trichters. Johnny legte die Kamera ab und zog seine Glock. Nach einer kurzen mentalen Koordination schalteten sie die Taschenlampen an und suchten raumdeckend das Gelände ab. Immer noch nichts und die beiden verbliebenen Kameras befanden sich noch an Ort und Stelle. Dann war das Zelt an der Reihe. Es war niemand darin und es erweckte nicht den Anschein, als habe sich jemand an ihrer Ausrüstung zu schaffen gemacht. Viktor gestattete sich ein wenig Entspannung und sagte:

"Mit Pennen ist es jetzt trotzdem Essig, falls…"

Weiter kam er nicht, denn ein kurzer Knall, eigentlich eher ein überlauter, gedämpfter Huster ließ ihn zusammenfahren. Er fuhr herum und zielte in die Richtung, aus der das Geräusch in etwa gekommen war. Bewegte sich dort etwas im Unterholz?

"Sofort rauskommen! Wir sind bewaffnet und befugt, jeden abzuknallen, der uns blöd kommt! Erste und letzte Warnung!", rief er versuchsweise und fand die Worte erbärmlich kläglich, wie aus einem schlechten Film.

"Viktor! Mann, dein Bein!", rief Johnny mit sich beinahe überschlagender Stimme.

"Was ist…VERDAMMT!"

Er sah an sich herunter und in dem Moment, als er es sah, begann er es auch zu spüren. Oberhalb seines rechten Knies baumelte ein absurd großer, rotgefiederter Betäubungspfeil, der in seinem Fleisch steckte. Blitzschnell und ohne nachzudenken ließ er seine Lampe fallen und riss ihn heraus. Dann stürzten er und Johnny hinter den nächsten Bäumen in Deckung, ließen das Licht erlöschen.

"Spürst du irgendwas?", zischte Johnny.

"Noch spüre ich alles, herzlichen Dank!", gab Viktor gepresst zurück. Er vermutete, dass in ihm gerade Adrenalin mit etwas anderem kämpfte und ihm wahrscheinlich wenig Zeit bleiben würde. Johnny gab ihm seine Taschenlampe. Sie hörten in der Nähe das Klicken und Einschnappen von Metallteilen. Nachgeladen, Wichser, dachte Viktor.

"Du leuchtest aus der Deckung, ich lege aus der Dunkelheit an", kommandierte Johnny.

Viktor streckte die Hand hinter dem Baum hervor, drückte den Knopf und versuchte blind mit dem Strahl wenigstens halbwegs in die richtige Richtung zu leuchten. Sein Freund warf sich nach rechts. Der unbekannte Angreifer schoss abermals, wahrscheinlich auf die Taschenlampe. Kein Treffer.

"Nach links, ein Stück höher!", hörte Viktor seinen Partner schreien und reagierte. Und einen Moment später:

"Hab dich, Arschloch!"

Viktor sah Johnnys Gesicht dreimal kurz im Mündungsfeuer seiner Waffe aufleuchten wie im Stroboskop-Licht einer Diskothek. Er hatte die Zähne gefletscht wie ein Tier, und die Züge schienen sich einen Moment lang zu verändern, zu zerfließen. Die Schüsse verhallten in der Dunkelheit des Waldes.

Der alte Mann lebte noch, sein Brustkorb hob und senkte sich krampfhaft und unregelmäßig. Atmet immer noch, obwohl Johnny ihn dreimal erwischt hat. Sollte krepiert sein, aber ist er nicht, genau wie… das Reh, dachte Viktor. Das Denken fiel ihm schwer, wahrscheinlich begann das Zeug in seinem Blutkreislauf zu wirken. Paradoxerweise fühlte er sich kräftig und voller Energie. Dem Kerl auf dem Boden lief Blut aus dem Mund in seinen wirren Bart und auf seine Jägermontur in Tarnfarben. Ein überaus modernes Nachtsichtgerät war ihm halb in die Stirn gerutscht, ein Auge schielte mit abgehackten Bewegungen nach oben in den bewölkten Nachthimmel. Der Blick erlosch, die Hände krallten ein letztes Mal in den weichen Untergrund, dann lag der Wahnsinnige so still wie sein unseliges Gewehr neben ihm.

"Viktor, komm weg da. Das ist jetzt zweitrangig. Wir kümmern uns erstmal um dich. Im Erste-Hilfe-Kit ist etwas von dem Anti-Drogen Foundationzeug."

Johnny sprach anders als sonst, irgendwie gedehnt. War da Aggression in seiner Stimme? Er hatte noch immer seine Waffe in der Hand. Viktors Beine kribbelten, fühlten sich heiß und verspannt an. Wasser wäre jetzt nicht schlecht, dachte er sehnsüchtig, sein Mund war knochentrocken. Seine Oberarmmuskeln zuckten ein wenig und er sah an sich herab. Sein Blick blieb an seinem Abzeichen hängen, was war das noch gleich? Natürlich, der Kreis. «MTF-8 Harlekin-NX8» oben darin und unten… «Trickster» «₧» «Sjhlfels». Die Tiwaz-Rune in der Mitte. Die Buchstaben rutschen aus ihren Verankerungen, warum, fragte sich Viktor. Der nach oben weisende Pfeil schien sich ihm zuzuwenden, löste und drehte sich in der Luft, bis die Spitze auf seine Kehle zeigte, bereit zum Zustoßen. Er hob die Hand um die Rune abzuwehren und blieb an etwas hängen. Eine Hand. Eine Kralle. Und dahinter eine Gestalt aus einem Albtraum, eine augenlose Kreatur, der Kopf verhüllt von einer Kapuze. Der Mund des Monsters teilte sich und es begann zu brüllen:

"FIIIIIIIEEEEEEEEE! OOOOOOOOOO!"

Er schlug die Hand weg. Schieres, unkontrollierbares Entsetzen erfasste ihn. Seine Beine schrien nach Bewegung, die schiere Kraft wollte hinausgeschleudert werden. Fliehen, ja, fliehen, zwischen die Bäume. Der Wald ist eine Wand, eine Wand, ohne Risse, ein Kissen, unzerschlissen, rasten seine Gedanken. Gelächter perlte aus seinem Mund, während er sich zu Tode fürchtete. Er blinzelte, bemerkte, dass er zwischen den Bäumen hindurchraste. Sehen konnte er den ganzen Wald, kannte jede Pflanze, jedes Tier, erkannte alle Gesichter die dazwischen zu ihm hinblickten, denn sie schwammen gemeinsam in dem warmen Purpur. Blitzen, Leuchten, Schnelligkeit, Freude, Angst. Freude an der Angst, Angst um die Freude. Seine Beine bewegten sich noch viel flinker, verschwammen vor den Augen, er roch die Kraft der elektrischen Hormone. Hörte holpernd-harten Herzschlag. Seinen? Im Kopf: MAG-GOG! MAG-GOG! Schlag! Schlag! Die Kraft, die ihn durchströmte wurde übermächtig und brach sich als erschütternder, vibrierender Sturm aus dem blauen Knoten seiner Seele bahn, die Wipfel bogen sich zurück. Weicht, Ehrfurcht, MAG-GOG! Etwas antwortete. Riesige Hände teilten den Wald, schoben mit Leichtigkeit alles davon. Verletzte Gliedmaßen, lange eingerissene Nägel, von denen sich Streifen von Haut nach oben rollten, wie Fetzen einer Tapete. Dahinter ein Verhüllter in der Schwärze. Schwärze! Nebelbruder, Nebenbuhler, großer Nebukadnezar, wusste Viktor mit Bestimmtheit. Der König sprach:

"Ein Kind braucht einen Vater. Bist du der Vater? ICH BIN ES!"

Viktors Beine verloren den Kontakt zu Allem. Er flog, endlich. Die Bäume rissen sich frei von der Umklammerung des Bodens, Bäumchen, wechsel dich, Wurzeln und Wipfel tauschten den Platz, stürzten mit ihm dem Himmel entgegen. Wasser, herrliches Wasser stürzte über ihm zusammen. Zog ihn nach oben in die Tiefe, sanft grün leuchtend, wie es sein sollte. Ein toter Vogel zog an ihm vorbei. Fällt er in den Graben!, lachte Viktor panisch, Blasen wie Kristallkugeln ausstoßend. Und dann sah er die Frau und den Jungen. Ihr Haar wogte sanft in der Strömung, sie winkten ihn zu sich, sie reichten ihm die verwesten Hände, alles nur Teile, nur Teile. Mehr Licht…

Viktor schreckte hoch.

"Bleib liegen. Ausgeschlafen? Schöne Show hast du da abgezogen. Ich hatte echt Schiss."

Er befand sich im Zelt, in seinem Schlafsack. Alles war feucht und er war nackt bis auf die Unterwäsche. Es stank übelkeiterregend. Benommenheit, oder eher Verwirrung hüllte alles in einen Schleier, ansonsten fühlte sich sein Körper normal an, sogar verdächtig gut. Allerdings musste er ein paarmal husten, bevor er antworten konnte.

"Das war der schlimmste Horrortrip, den ich je hatte. Hast du mich etwa ausgezogen? Konntest nicht an dich halten, weil ich weggetreten war, wie?"

"Das Gegenmittel für alles muss echt bockstark sein. Sogar die saudummen Sprüche kommen schon wieder ganz flüssig", kommentierte Johnny, der die Notdecke aus dem Verbandsset um die nackten Schultern gewickelt hatte.

Viktor nahm erst jetzt wahr, dass es draußen zu regnen begonnen hatte, es platterte auf der Plane und das nicht gerade schwach.

"Bitte sag mir, dass ich nicht in die Brühe gefallen bin", verlangte er, obwohl er es besser wusste.

"Natürlich nicht, keine Sorge." Johnny machte eine kleine Pause. "Du bist freudig hineingesprungen und hast versucht, den Tümpel auszutrinken."

Viktor stöhnte gequält auf, aber Johnny fuhr unbarmherzig fort:

"Vorher hab ich dich ewig lang durch den Wald verfolgen müssen, geschrien hast du wie am Spieß und erst Ruhe gegeben, als ich dich halbersoffen aus dem Krater gezogen hab."

"Vielen Dank, Johnny. Gott, was war da in dem Pfeil für Zeug?", fragte Viktor und Johnny hob einen Rucksack hoch, der nicht ihnen gehörte. Als er ihn schüttelte war fröhliches Geklimper von Glasflaschen zu hören, die aneinander schlugen.

"Gute Frage. Ein bunter Strauß an chemischen Überraschungen, Hausmarke, würd' ich sagen. Methamphetamin, Adrenalin und LSD kennst du ja, Atropin wahrscheinlich auch, Psilocybin, Muscimol und Tilidin hätte ich noch anzubieten. Von allem etwas, schätze ich. Netter Cocktail. Den dürften das Reh und meiner Meinung nach auch der Alte intus gehabt haben. Richtig explosive Mischung."

Viktor setzte sich nun doch auf, worauf die Übelkeit nur gewartet zu haben schien. Sie traf ihn mit der Wucht einer Abrissbirne und er schaffte es gerade noch aus dem Zelt zu kommen, bevor er schwallweise eine gewaltige Menge an Flüssigkeit erbrach. Heilige Scheiße, da sind Blätter mit dabei, dachte er zwischen zwei Schüben. Endlich war es vorbei, er rollte sich auf den Rücken und wollte nichts mehr, als den Regen auf sich prasseln zu lassen um den Dreck des Trichters loszuwerden. Johnny stand vor ihm, leuchtete mir seiner Lampe und sah nachdenklich zum dem Tümpel hinüber.

"Weißt du was? Wenigstens war es nichts Übernatürliches, diesmal. Nur ein völlig Verrückter", machte Viktor angestrengt. Johnny sagte:

"Da bin ich mir gar nicht so sicher. Viktor, ich schwöre, als ich dich zum Zelt geschleift habe… da hab ich mich nochmal umgedreht. Die Heisler und ihr Sohn standen am Trichter und haben mir nachgeblickt."


"Das war's. Nachdem ich alles rausgekotzt hatte ging es mir bald besser. Wir haben Meldung erstattet und tapfer bis zum Morgen durchgehalten. Richtige Helden eben."

Viktor lehnte sich zufrieden zurück. Bell dagegen beugte sich vor und klopfte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. Etwas stimmte nicht, da war er sich plötzlich sicher.

"Ist das so, ja? Gar nichts weiter? Tu' mir doch den Gefallen und denk noch einmal kurz drüber nach, in Ordnung?"

So war das also. Er versuchte Johnny einen vernichtenden Blick zuzuwerfen, doch der schien etwas Hochinteressantes an der Wand entdeckt zu haben, das seine Aufmerksamkeit völlig beanspruchte.

"He, du!"

"Das war nicht mal ein Halbsatz in meinem Bericht. Bell hat's halt gesehen und nachgebohrt. Ist doch nicht schlimm…", wiegelte Johnny ab, den Fokus weiterhin nach vorne gerichtet.

"Bell, hör doch mal, das andere Zeug hab ich einfach im Rausch zusammengesponnen. Mein Kumpel hier, der so gern aus dem Nähkästchen plaudert, kann sich an den Teil nicht erinnern, weil er einfach nicht passiert ist. Ich hab' es ihm erzählt. Das stimmt doch, Johnny? Warum sollte ich etwas in den Bericht schreiben, das nicht wahr ist?"

"Dann erstattest du hier und jetzt Bericht über das, was nicht passiert ist. Wie wäre das?", fragte sie und Viktor hatte das Gefühl sie lauere auf irgendetwas. Er sah auf die Uhr. Mann, das geht alles von meiner Zeit ab, bringen wir es also hinter uns, beschloss er.


Viktor sah ebenfalls zum Trichter. Keine Gespenster. Die Erscheinung des Alten, der von drei Kugeln zurückgerissen wurde, zählte nicht. Aber da war etwas anderes, es dauerte einen Augenblick, bis er es festmachen konnte. Ein Weg führte vom Rand des Kraters in den Wald hinein. Es war kein Pfad im klassischen Sinne, sondern ein Zusammenspiel aus niedergedrückten Pflanzen, Ästen. Aber auch nicht einfach das Ergebnis all ihrer Bewegungen seit sie sich hier aufhielten, dafür war das Ensemble viel zu exakt. Was Viktor noch eigentümlicher erschien: Er leuchtete schwach, sobald man den direkten Blick abwandte, war aus dem Augenwinkel betrachtet noch deutlicher erkennbar.

"Siehst du das? Den Weg meine ich?", fragte er vorsichtig, weil er eigentlich davon überzeugt war, immer noch Halluzinationen zu haben.

"Den schimmernden Streifen? Ja, sehe ich. Was ist das plötzlich?"

"Das ist der Grund, warum wir wohl wieder in die nassen Sachen schlüpfen müssen. Pflicht ist Pflicht."

Die Erscheinung übte eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn aus, er wollte nur zu gerne wissen, wohin der Pfad wohl führte, obwohl er auch wusste, dass diese Empfindung nicht normal war.

"Du hast wohl den Verstand verloren wegen dem Zeug in deinen Adern? Ich glaube, ich setz' dir besser noch eine Spritze. Wir warten auf Verstärkung. Hier liegt eine Leiche herum! Wir haben doch vorhin erst festgestellt, dass es falsch war, sich hier wegzubewegen. Geschweige denn zu zweit! Wir machen nichts in die Richtung, damit das gleich klar ist!", sagte Johnny fest.

Etwa zehn Minuten später befanden sie sich auf dem Weg durch den Wald.

"Das ist indirekte Erpressung. Du weißt ganz genau, dass ich mitkommen muss, weil du verdammt nochmal nur Unsinn machst", meckerte Johnny.

"Du machst dir Sorgen um mich, darum geht es. Das ist lieb von dir und ich würde das auch für dich machen", antwortete Viktor boshaft, was mit einem unwilligen Schnauben quittiert wurde.

Der unnatürliche Pfad führte, einige willkürliche Kurven beschreibend, vom Trichter und auch immer weiter von ihrem Wagen weg. Während sie weitergingen, begann sich der Himmel, so bewölkt er auch sein mochte, über den Wipfeln langsam aufzuhellen. Viktor dachte an die Vergangenheit und wusste, dass oft die schlimmsten Dinge nicht in der Mitte der Nacht geschahen, sondern im Morgengrauen. Dann, wenn man nicht mehr damit rechnete. Der Wald endete. Vor ihnen lag keine Lichtung, dafür war das freie Gelände einfach zu groß. Allerdings war es von allen Seiten von den Wäldern eingefasst und wirkte schummrig, an den Rändern fransig, wie ein Brandloch in einem Teppich. Von irgendwo in der Ferne zog sich schnurgerade ein von schweren Reifen tief in den Boden eingegrabener Feldweg bis hin zu einem Haus, das wiederum von Feldern umsäumt war. Raps stand in voller Blüte auf den Äckern, die viel zu klein für einen echten landwirtschaftlichen Betrieb schienen. Damit passten sie zu dem Gebäude an sich. Es war kein Hof, aber auch keine Jagdhütte, für das eine zu gedrängt und zusammengezogen, für das andere zu massig und breit. Die Behausung war vollkommen verkleidet mit zu ins Schwarze gedunkelten Brettern und Schindeln, über der Tür starrte ihnen ein heller Fleck entgegen: Schädel und Geweih eines Hirsches. Vor der Hütte stand ein geparkter Geländewagen. Viktor nahm die Szenerie, die sich ihm bot in sich auf und merkte, dass seine Augen zu tränen begannen. Was er sah, war nicht gut, ganz und gar nicht.

"Johnny, schau dir bitte mal kurz meine Augen an", bat er.

Sein Freund trat heran und leuchtete ihm ins Gesicht. Er presste die Lippen aufeinander.

"Komplett grau geworden. Wie viele?"

"Ich hätte behauptet um die zwanzig. Aber wenn meine Augen sich verändern, sind es wahrscheinlich noch mehr. Verschwinden alle in dem Haus", antwortete Viktor.

Die meisten der geisterhaften grauen Gestalten bewegten sich über die mit Gewalt in den Boden gegrabene Strasse, wobei manche mehr als einmal durch eine andere hindurchglitten. Doch auch von überall her über die Felder kamen sie, widerstandslos durch den Raps schreitend, während der Regen durch sie hindurchprasselte.

"Scheiße, über zwanzig? Zwanzig Morde? Das ist eine Nummer zu groß für uns. Aber du willst trotzdem da reingehen. Stimmt doch?", fragte Johnny zwischen Betroffenheit und Resignation, während er sich den Regen aus der Stirn rieb.

Als sie den Geländewagen, einen ziemlich in die Jahre gekommenen Toyota passierten, stürzte ein überaus großer Kater unter dem Auto hervor, wo er wohl Schutz vor dem Wetter gesucht hatte. Er rannte, wenn man es denn als rennen bezeichnen wollte, unter die Traufe Hauses. Seine Bewegung waren überaus schnell, aber auch schlingernd und abgehackt, was darauf zurückzuführen war, dass dem Tier der rechte Vorderlauf fehlte. Armer Kerl, dachte Viktor und: Interessanter Kerl. Denn der Kater war, während er zur Hütte flüchtete eindeutig einem der Phantome aus der Vergangenheit ausgewichen. Viktor näherte sich dem getigerten Tier, dessen Fellfarbe man seiner Meinung nach wohl am besten mit "Verblasstes-Orange" auf "Sollte-mal-gewaschen-werden-Weiß" beschreiben konnte von der Seite. Mensch und Tier musterten sich.

"Miez…", begann Viktor, doch der Kater legte sofort die Ohren nach hinten, fauchte verblüffend laut und sauste an der Hütte entlang davon. Viktor zuckte die Achseln, verfolgte, wie ein Geist durch die geschlossene Türe verschwand. Kurz bevor er anklopfte, fragte er:

"Jetzt hast du den Kater verscheucht. Gibt es eigentlich einen Grund, warum Katzen keine Telepathen mögen? Bereit?"

"Falsche Prämisse. Katzen mögen keine arroganten Quatschköpfe. Bereit, Quatschkopf."

Als nach mehrmaligen Klopfen und Rufen niemand reagierte und die Tür sich als verschlossen herausstellte, machte Viktor Anstalten, die Tür kurzerhand einzutreten.

"Warte, lass mich mal. Ich probier' den hier mal, den hatte der Irre bei sich", sagte Johnny und begann, sich mit einem gusseisernen Schlüssel am Schloss zu schaffen zu machen. Er ließ sich drehen. Es klickte. Johnny zog seine Waffe und ging rückwärts.

"Geh nach rechts und zieh sie zu dir hin auf, ich sichere ab."

Viktor gehorchte. Die verblasste Erinnerung an einen übergewichtigen Mannes schritt mitten durch ihn hindurch, er zwang sich hinzusehen. Warum kann ich sein Gesicht nicht erkennen, fragte er sich übergangslos. Normalerweise waren solche Einzelheiten für ihn viel detaillierter, als ihm lieb war.

"Nichts im Gang", sagte Johnny. "Gehen wir rein."

Drinnen waren die Geister einfach überall. Einige bewegten sich eine kurze Treppe hinauf in einen sehr niedrigen ersten Stock, andere in einen der drei abgehenden Räume. Und manche waren schon hier im Durchgang ermordet worden, auf unterschiedlichste Art und Weise. Es war ein wimmelndes, grausames Pandämonium von Bewegungen, Gewalt und dem Wahnsinn, der sich wie ein roter Faden durch die letzten Stunden gezogen hatte. An der Wand sah Viktor eine gerahmte Fotographie. Sie zeigte den alten Mann aus dem Wald in der Hocke, einen Jagdhund an seiner Seite. Der Kerl wirkte jünger, gepflegter, normaler.

"Da waren die Schräubchen wohl noch straffer angezogen", meinte Viktor, auch, nur um etwas zu sagen, dass ihn ein wenig von dem Gemetzel um ihn herum ablenkte.

Zeig es mir, sendete Johnny.

"Das muss nicht sein, es ist schlimm. Ich sag' dir, wenn es irgendwo spukt, dann hier."

Steh ich schon durch. Gib mir die Bilder.

Viktor versuchte einen mentalen Schnappschuss zu machen und konzentrierte sich.

Verdammt. Das ist… heftig, kam es von Johnny zurück und an der Botschaft hafteten noch visuelle Fetzen des Bildes, es musste ihn ziemlich getroffen haben.

Viktor ließ ihm einen Moment um das Gesehene zu verarbeiten und inspizierte die Küche, die links von ihnen lag. Wie zu erwarten, Mobiliar aus Großmutters Zeiten, Hängeschränke, die beinahe auseinanderfielen, das rostrot verfärbte Emaille des Waschbeckens so gesprungen, dass es wirkte, als sei ein Spinnennetz darüber gelegt worden. Ein Tisch aus sperrigen Bohlen. Daran saß der fettleibige Geist von gerade eben. Immer noch waren die Gesichtszüge verschwommen, aber Viktor verstand die Situation. Das Phantom schüttelte den Kopf, hatte die Arme flehend ausgestreckt. Fasste dann nach etwas auf der Tischplatte, führte es zum Mund. Kaute, zuckte gequält, legte den Kopf beinahe sanft auf die Tischplatte und verschwand. Wenigstens für den Moment. Er wandte sich ab.

Der zweite Raum barg mehrere Überraschungen. Die Tür ließ sich nur schwer öffnen, sie war verstärkt und besaß im Inneren, ebenso wie der Rahmen, einen Kern aus Metall, warum auch immer. Eine miasmatische Wolke wogte aus dem Raum, als sie sich Zugang verschafften. Ein schreiender Gestank nach Verwesung und Verfall, gepaart mit der Modrigkeit von verdorbenem Wasser, ganz wie die im Trichter. Sie zogen sich angeekelt in den Gang zurück. Wir stinken nach dem Tümpel und haben uns daran gewöhnt, wie sehr muss es hier drin riechen, schoss es Viktor durch den Kopf.

"Warten wir einen Moment. Vielleicht zieht das Schlimmste einfach raus", schlug Johnny vor, während Viktor ernsthaft darüber nachdachte, das eine verhüllte Fenster zu zerschießen.

"Schau mal, hinter der Schwelle, auf dem Boden."

Salz. Ziegelstaub. Das sind abergläubische Schutzmaßnahmen, von der billigen Sorte. Einen Berg verschiedenster Kleidung konnte ich sehen. Vielleicht von den Opfern?

"Fragt sich, wo die Körper dazu sind. Und sie sind alle zunächst mal freiwillig und zu Fuß hierhergekommen, fällt mir gerade auf. Rätselhaft. Also, kneif die Nase zusammen. Los!"

Der Raum enthielt keinerlei Einrichtungsgegenstände, nur den Wäschehaufen und eine Menge an Schuhwerk, beides zum Teil schwarz mit eingetrocknetem Blut verkrustet. Prima, wenn wir die Treter sortieren, kriegen wir die genaue Anzahl der Getöteten raus, dachte Viktor zynisch. In der Nähe der östlichen Wand befand sich eine steinerne Treppe, die nach unten führte. Allerdings stand sie beinahe frei, denn um den Abgang herum war der Boden aufgebrochen, die Stufen verloren sich in dem Loch wie eine graue Zunge in einem zahnlosen Maul. Der Zugang musste mit rohester Gewalt und großer Kraft erweitert worden sein, denn sogar die Wand war in Mitleidenschaft gezogen worden und man konnte durch diverse Risse in den nächsten Raum sehen. In einer Ecke lehnte ein Teil der zerbrochenen Bodenluke, die Scharniere völlig verbogen. Viktor trat näher und besah sich den Schaden. Der widerliche Gestank strömte von unten herauf, daran gab es keinen Zweifel.

"Hier drin ist niemand gestorben, Johnny. Ist doch merkwürdig. Und die Ränder hier… sind überall nach oben gebogen. Das sieht aus, als ob etwas von unten durchgebrochen wäre."

"Du hinterlässt Fußspuren. Aber das ist kein Staub, Salz ist es auch nicht."

Johnny ging in die Hocke, nahm ein wenig davon zwischen Zeigefinger und Daumen. Er zerrieb das Pulver, dann hob er einen kleinen Splitter vom Boden auf und begutachtete ihn.

"Knochen. Und Knochenmehl, wahrscheinlich. In was…"

Es rumpelte unter ihnen. Der Boden vibrierte, so plötzlich und so heftig, dass Viktors Zähne kurz aufeinander schlugen. In der lichtlosen Tiefe am Ende der Treppe schleifte sich etwas Gewaltiges durch die Dunkelheit, schabte an den Wänden und machte gleichzeitig Geräusche wie das Knacken brechenden Geästes und das klickende Rasseln von Tabletten in einem Röhrchen, nur viel, viel lauter. Und wie Bowlingpins und Billardkugeln, dachte Viktor.

"Da kommt was, raus hier!", rief er, von dem Loch wegspringend.

Die stahlverstärkte Tür fiel ohne jegliches Zutun krachend ins Schloss. Sekundenbruchteile später zerrten sie mit vereinten Kräften an ihr, ohne den geringsten Effekt zu erzielen. Derweil war das Brausen und Krachen näher gekommen, Kalkputz und Staub rieselten von der Decke.

"Fenster!"

Als sie den blickdichten braunen Vorhang herunterissen, starrten sie auf ein Eisengitter, durch dessen Zwischenräume nicht einmal eine Faust gepasst hätte. Aber vermutlich wäre es auch ohnehin schon zu spät gewesen. Etwas kam am Rande des Loches in die Höhe geschossen und ragte einen Moment senkrecht bis beinahe unter die Decke, bevor es an mehreren Gelenken abknickte. Die Spitze kratze über den Holzboden. Es war ein Arm, ein Bein, beides gleichzeitig und auch wieder nichts davon. Eine groteske Zusammenbündelung von menschlichen und tierischen Knochen, manche sauber wie Elfenbein, manche voller verwesender Muskelreste und fleckig von getrocknetem Blut. Eine Extremität wie die eines unmöglichen Insektes. Es gab Lücken in dem Konstrukt der Knochen, Viktor sah, wie dazwischen weitere Knöchelchen zur Spitze wanderten, wo sich das bizarre Zerrbild einer Hand bildete. Sie stützte sich auf und begann Druck auszuüben. Johnny und er eröffneten das Feuer. Splitter flogen nach allen Seiten davon, der Beinarm knickte kurz ein. Aber schon hatte sich ein weiterer aus dem Boden erhoben. Dann noch einer. Und noch einer. Johnny und er wichen an die Wand zurück, ihre Magazine leergefeuert. Das Mahlen und Klackern war so ohrenbetäubend laut geworden, dass sie ihre eigenen Schreie nicht mehr richtig hören konnten. Der Oberkörper des Wesens erschien, tauchte geschmeidig aus der Öffnung wie eine Trichterspinne. Der Torso selbst wirke wie ein Kokon aus verwobenen Rippen und Wirbeln, gepanzert mit mehreren Reihen schuppenähnlich angeordneter Beckenknochen. Das Wesen hielt inne.

Scheiße! Nicht bewegen! Luft anhalten. Scheiße!

Der Knochenkörper öffnete sich knirschend wie eine Auster. Aus dem Dunkel in seinem Bauch schob sich etwas nach vorne. Das ist das Auge, das ist sein gottverdammtes Auge, rasten Viktors Gedanken.
Acht, sich stetig drehende, im Kreis angeordnete menschliche Schädel mit ihnen zugewandten leeren Augenhöhlen wurden sichtbar. Die Totenköpfe rückten näher zu zusammen, das Loch zwischen ihnen eine sich verengende Pupille. Dann schnellte die Schädelrosette zurück in die schützende Tiefe. An ihre Stelle traten Reihen chaotisch ineinander rotierender Zähne, ein furchtbarer, effizienter Fleischwolf, ein Schredder, der ihnen das Fleisch von den Knochen fetzen würde, wie es schon bei so vielen anderen geschehen war. Einen Sekundenbruchteil lang erkannte Viktor einen schimmernden Goldzahn in dem Gewirr. Das Wesen spannte sich und sprang auf sie zu, zwei der Gliedmaßen erhoben wie die Fangarme einer Gottesanbeterin.

Viktor schreckte hoch.

"Bleib liegen. Ausgeschlafen? Schöne Show hast du da abgezogen. Ich hatte echt Schiss."

Er befand sich im Zelt, im Schlafsack. Alles war feucht. Seine Gedanken überschlugen sich, ihm war unendlich übel. Es war kalt, viel kälter als beim letzen Mal und er zitterte am ganzen Leib.

"Johnny", brachte er heraus, "hast du mich aus dem Krater gezogen?"

"Allerdings, du bist durchgedreht wegen…"

"Den Drogen in dem Rucksack neben dir. Du hast mir was gespritzt. Als ich bewusstlos war, hast du den Geist dieser Frau und des Jungen gesehen."

Verblüffung glitt über Johnnys Gesicht und es dauerte einen Moment, bis er offenbar zu einer Erklärung gelangte und antwortete.

"Wie kannst du das wissen? Was soll das? Du warst also gar nicht weggetreten."

"Doch, und wie", schauderte Viktor, befreite sich so schnell er konnte aus dem Schlafsack und schleppte sich aus dem Zelt. Bevor er sich gestattete zu erbrechen suchte er nach dem schimmernden Weg. Es gab keinen.

"Gottseidank", brachte er noch hervor, bevor er auf die Knie sank und sein Magen die Kontrolle übernahm.


"Wie du also siehst, nicht wichtig, kein Pfad, kein Haus, keine Geister, kein Katakomber."

"Kein was?", fragte Bell mit hochgezogenen Augenbrauen.

"Den Namen habe ich für das Vieh erfunden. Mein Unterbewusstsein hat es wirklich drauf, was Monsterdesign angeht", sagte Viktor, der nun wirklich langsam genug hatte von dem ewigen Gequatsche.

"Aha. Wie erklärst du dir, dass du wusstest was passiert war, wenn du doch "weggetreten" warst?"

"Auch Unterbewusstsein. Ein Teil von mir hat es eben mitbekommen."

Bell stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen.

"Nach Johnnys Bericht habe ich, weil ich im Gegensatz zu dir pflichtbewusst bin, Nachforschungen angestellt."

Viktor, der sich selbst für sehr pflichtbewusst hielt, war ein wenig beleidigt. Bell fuhr fort:

"Es gibt die Hütte, Viktor. Grundriss, Beschreibung, Anordnung der Räume, alles da, bis hin zu dem Geweih über der Tür. Es gibt das Loch im Boden. Was sagst du jetzt?"

"Oh. Was? Und…?", stotterte er nur, wo er doch sonst nie um Worte verlegen war.

"Dein Katakomber? Nicht da. Aber Knochenreste. Und sein Bau. Wir werden an der Sache dranbleiben müssen. Kapierst du jetzt, warum ich Wert auf ausführliche Berichte lege?"

"Ja, Ma'am. Natürlich, Ma'am."

"Lass den Scheiß, ja? Zu deiner Disziplinarmaßnahme. Du sprichst ja immer von mehr Freiheit, weniger Kontrolle und Eigenverantwortung."

"Nein, das hab ich nie gesagt", log er dreist, obwohl jeder im Raum Bescheid wusste. Er sah seine Felle davonschwimmen, was den heutigen Tag betraf und möglicherweise auch die nächste Zeit.

Bell ging zu einem ihrer riesigen Mooreichenschränke und holte einen Kasten hervor. Sie stellte ihn vor Viktor auf den Schreibtisch.

"Verantwortung. Ohne Kontrolle, ganz deines", sagte sie nur.

"Oh. Ach…", blubberte er schon wieder. Mist, dachte er, und wandte sich Johnny zu.

"Hast du was zu sagen? Du erzählst doch sonst so gerne Sachen. Und hör auf zu lachen!"


"Wie nochmal? Try? Trei?", fragte Mathilda.

Viktor saß auf ihrer Bettkante und beobachtete vergnügt und mit einem warmen Gefühl der Zuneigung, wie sehr sie sich freute.

"Tri, wie in…", setzte er an.

"Tripod. Jetzt verstehe ich. Das ist gemein", unterbrach sie ihn, brachte aber kein grimmiges Gesicht zustande.

Der dreibeinige Kater fühlte sich ausgesprochen wohl in Mathildas Gegenwart, stieß und rieb sich unaufhörlich an ihrem Bein. Sein Schnurren erinnerte Viktor an den Motor einer elektrischen Nähmaschine.

"Warum? Wenn er die Katzen in den Gassen von Sjhlfels aufmischt, kann er Sachen wie "Tri me" oder "Tri again" sagen."

"Fade Wortwitze, wie immer", stellte Mathilda fest.

Viktor lächelte und wollte ihr über den Kopf streichen. Tri legte die Ohren nach hinten und fauchte ihn an. "Tri it", wollte er wohl damit sagen.

"Schon gut, verstanden, ich geh' ja schon." Er erhob sich und durchquerte halb den Raum.

"Ach ja, schon gehört? Du erinnerst dich doch noch an den Kellner in der "Kirschblüte"? Den Schlacksigen mit dem affigen Haarschnitt?"

Mathilda hatte sich meisterhaft unter Kontrolle, das musste er ihr lassen.

"Dunkel. Eigentlich gar nicht."

"Na dann. Egal. Der ist ziemlich schwer verletzt worden, ein Wunder, dass er noch lebt. Bis dann!"

Er erreichte die Tür und öffnete sie vorsichtshalber schon ein wenig. Hinter ihm ließ Mati den Kater Kater sein.

"Stopp! Was ist mit ihm?"

Viktor grinste kurz bevor er sich umwandte und nonchalant dahinsagte:

"Tragische Geschichte. Hat sein Herz verloren. Vielleicht räumst du mal deine Bude auf, sollte hier irgendwo rumliegen."

Er verließ schnell das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Etwas klatschte von der anderen Seite dagegen. Das war ein Kissen, kein Kater, da hat er aber Glück gehabt, dachte Viktor vergnügt. Es würde doch noch ein schöner Tag in Sjhlfels werden.

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