Doch ein Königreich, das einmal zerstört wurde, kann nie wieder errichtet werden; und auch die Toten können nicht ins Leben zurückgeholt werden.
- Sun Tzu, Die Kunst des Krieges, Kap. 12, 21
50 Tage in dieser Zelle.
75 Tage in dieser Zelle.
100 Tage in dieser Zelle.
Ein Jahr… zwei Jahre?
Zeit hatte langsam ihre Bedeutung verloren. Tagein tagaus die gleiche Routine: Aufstehen, Toilette machen, trainieren, frühstücken, irgendein Buch lesen, das man ihm zur Verfügung stellt, Mittag essen, wieder trainieren, Abend essen, die Flucht planen, schlafen gehen. Baron Wolfgang von Berg, einst ein respektierter Offizier, war nun ein gottverlassener Gefangener, eingesperrt wie ein gemeiner Tagedieb. Wieso war er hier? Warum muss er solch ein Schicksal erdulden, wenn er dort draußen doch gebraucht wird?
Wolfgang saß wieder spätabends auf seinem Bett und zermarterte sich den Kopf, wie er sich aus seiner Gefangenschaft wieder befreien konnte. Doch niemals nützte es etwas. Selbst wenn er seinen Ganzkörperanzug ablegen könnte; Selbst wenn er aus der Zelle entkomme und an den Sicherheitskräften vorbeikomme: Er befandt sich trotzdem noch auf einem Luftschiff auf einer unbekannten Himmelslinie über einem unbekannten Kontinent, wenn nicht sogar über einem unbekannten Ozean. Hier in der Tropopause des Atmosphäre wären seine anomalen Fähigkeiten dazu noch völlig nutzlos. Nein, seine einzige Hoffnung wäre es, dass seine Männer bei der LindwurmGruppe ihn finden und befreien. Doch wann wird das passieren?
Seit dem Zerfall der Erdlinien war die Welt nicht mehr die gleiche. All die harte Arbeit, all die Mühe und das Leid, all diese schrecklichen Dinge, die er tun musste, um seinem Vaterland zu dienen, um es wieder auf den Pfad des Wohlstandes, der Macht und Freiheit zurückzuführen, das alles ist in ein paar Tagen zunichte gemacht worden. Dabei ist er so weit gekommen, das Ziel war schon in Sicht. Aber dann kam SAPPHIRE. Wolfgang ballte zitternd die Fäuste.
SAPPHIRE.
Sie waren an allem Schuld. Sie sind schuldig für die Zerstörung seines Vaterlandes, für die Unbewohnbarkeit der Welt und für die Massenvernichtung von Milliarden von Menschen. Das alles musste er miterleben. Er und seine Leute. Nachdem die Nachricht von der Katastrophe nach Europa gewandert war, hatten er und seine Männer ihr Bestes versucht, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Doch es war nicht genug: Die Massenpanik war zu groß und die Menschen waren zu viele. Dort Ordnung beizubehalten war ein Ding der Unmöglichkeit, es waren trotzdem viel zu viele Menschen auf der Oberfläche gefangen geblieben.
Diese eine Erinnerung wird ihm immer in Gedächtnis bleiben, als er im Funkraum seines Schiffes verzweifelt versucht hatte vor dem Eintreffen des Sturms die verbliebenden Menschen in Schiffe oder Tunnel zu navigieren. Er war nicht der einzige gewesen: Viele hatten am Funkraum Stellung bezogen, um zu erfahren, ob diese oder jene Menschengruppe schon aus der Gefahrenzone evakuiert war. Aus Angst um ihre Freunde, Verwandten und Geliebten. Es hatte keiner ein einziges Geräusch gemacht als allmählich die Funkstationen verstummt waren. Diese Stille, die dann aufgetreten war, hatte den Geist der Versammelten zerdrückt und deren Verstand zerfressen. Manche hatten versucht sich gegenseitig Kraft zu geben, sich gegenseitig vom Zusammenbrechen zu bewahren, mit gemischten Erfolg. Manche hatten in Schweigen getrauert, völlig aufgelöst für sich allein. Wolfgang war einer davon. Er flüchtete sich in seine Kabine und verfluchte SAPPHIRE, die Foundation für ihre Nutzlosigkeit und am meisten sich selbst.
Es war immerhin seine Pflicht, seine Mission für sein Volk zu sorgen, es unter allen Umständen sicher zu halten. Hätte er doch dieses oder jenes besser gemacht, anderes in Betracht gezogen oder früher erkannt. Es war sein Versagen, das so viele Menschen nun einen elendigen Tod erleiden mussten. Er hatte versucht sich wieder aufzuraffen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, aber vollständig war ihm das nie wieder geglückt. Vielleicht war es deshalb der Foundation gelungen sein Schiff zu identifizieren und ihn letztlich gefangen zu nehmen.
Bin ich überhaupt noch dazu geeignet, die LindwurmGruppe anzuführen?
Schuld und Selbstzweifel haben ihn seit Jahrzehnten begleitet. Mit der Zeit wuchsen sie stetig und ernährten sich von seinen Verlusten und Verbrechen wie Parasiten. Bis vor kurzem konnte er sie noch in Schach halten, sie in sein tiefstes Inneres verbannen. Doch nun haben sie fast sein ganzes Selbst ergriffen und ihn durch die Tage geplagt und verfolgt. Und nachts manifestierten sie sich dann als Albträume, die ihn seit mehr als hundert Jahren nicht mehr den Schlaf geraubt hatten. In ihnen sah er immer wieder die Wurzel seines Leids, damals an dem einen Morgen des 15. Mai 1915, als…
Wolfgang hörte Schritte. Oder eher ein Schritt, der von einem hölzernen Geräusch begleitet wurde.
Etwas kam auf ihn zu.
Will einer der Forscher ihn etwa wieder befragen? Um diese Uhrzeit? Ohne ihn vorher davon zu informieren?
Er bemerkte, dass er nicht gehört hat, wie die Tür aufgegangen war.
Verwirrt schaute er auf und erblasste sofort, als er die Person erkannte, die vor ihm stand.
Es war ein Soldat aus einer anderen Zeit. Seine Uniform war ihm nur allzu gut bekannt, hatte er eine solche doch einst selbst getragen: Eine feldgraue Uniformjacke mit einer passenden Hose und mit braunen Marschstiefeln, die sie damals Knobelbecher genannt haben, alles völlig verdreckt von Blut und Schlamm, als wäre er gerade aus einem Schützengraben gekrochen. Jedoch… es war nur ein Stiefel. Diesem Soldaten fehlte sein rechtes Bein. Bis zum Knie war nur noch ein Stumpf übriggeblieben. Die Wunde war noch immer mit Verbandszeug verarztet, vertrocknetes Blut konnte man noch hindurchsehen. Um noch aufrecht stehen zu können, hielt er mit der rechten Hand eine Holzkrücke zitternd fest.
Seine Augen waren mit einer Augenbinde verdeckt, jedoch starrte der Soldat Wolfgang direkt in sein Gesicht, als könnte er durch sie hindurchsehen.
Ein schwarzrotes Loch klaffte ihm auf seiner Stirn, aus dem schon lange vertrocknetes Blut geflossen war, welches in die Augenbinde gesogen worden und dann sein Gesicht heruntergelaufen war.
Er trug ein breites, aber freudloses Grinsen auf den Lippen, bei dem seine Zähne von schwarzem Blut verklebt waren.
Der Soldat wimmerte leise.
U-Unmöglich… Wolfgang wusste genau, wer er war. Er wusste, woher das Loch auf der Stirn stammte. Er wusste, was mit seinem Bein passiert ist. Er wusste sogar, weshalb der Soldat vor ihm solch ein schreckliches Grinsen zeigte.
Jedoch wusste er nicht, wie er hier sein kann. Denn er war seit mehr als hundert Jahren tot.
Eine Halluzination? Träumte Wolfgang schon, ohne es bemerkt zu haben?
Das Wimmern des Wesens schlug in ein Kichern um, wobei man jedoch den Unterschied kaum erkennen konnte.
„Oh nein, Wolf, das hier ist kein Traum. Ich bin es wirklich, dein kleiner Bruder Paul. Freust du dich nicht?”
Als Wolfgang die Stimme seines toten Bruders Paul hörte, standen ihm sämtliche Nackenhaare auf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sein letztes, noch unbeschädigtes Auge zuckte unkontrolliert. Angst übermannte ihn, wie er sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Was hatte das alles zu bedeuten?
„Das i-ist doch nicht möglich…” flüsterte er. „Wie kannst du…?”
„…hier vor dir stehen? Ich dachte, dass mein großer Bruder mich sicher vermisst. Also habe ich mir erlaubt dich zu besuchen. Tut mir Leid, dass ich nicht im besten Staat auftrete, aber wir wissen ja beide, wer daran Schuld ist, oder?”
Wolfgang stand auf und ging zögernd einen Schritt auf das Wesen zu. „Ich… Paul, es… es tut mir so Leid. Ich wollte niemals-”
Die Gestalt lachte schallend. Es war ein höhnisches Gelächter, etwas, was Wolfgang noch nie von Paul gehört hatte. Als die Gestalt aufhörte, verfinsterte sich dessen Gesicht und verzerrte sich zu einer wutentbrannten Fratze.
„Es tut dir Leid? Oh, dem tugendhaften Baron von Berg tut es Leid, dass er seinen eigenen Bruder ermordet hat! Und nun denkst du, wir können uns wie durch ein Wunder wieder in die Arme schließen?! Erwartest du tatsächlich, dass ich dir jemals vergeben werde?!”
Wolfgang starrte das Wesen nur entsetzt an, wie es ihm ins Gesicht schrie. Seine Greueltat hatte seinen Bruder zu einem rachsüchtigen Geist gemacht. Voller Scham senkte er seinen Blick.
,,Nein, das erwarte ich nicht von dir. Ich erwarte keinerlei Vergebung von irgendwem. Dafür habe ich zu viele Verbrechen begangen.